Wahl zum EU-Parlament: Anleger könnten profitieren

von , 04.06.2024, 00:41 Uhr

Kommentar von Kim Catechis, Investment Strategist, Franklin Templeton Institute

An vier Tagen im Juni werden über 350 Millionen1 Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union (EU) über die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments bis zum Jahr 2029 entscheiden. Dies ist nach Indien die zweitgrößte demokratische Abstimmung der Welt. Etwa 20 Millionen davon werden Erstwähler sein. Wir scheinen an einem Wendepunkt zu stehen; die Mehrheit der Bevölkerung erklärt, dass sie das Vertrauen in die traditionellen, etablierten politischen Parteien verloren habe und einen Wandel wünsche.

Welche Themen stehen im Mittelpunkt?

Aus der letzten Eurobarometer-Umfrage2, die vor den Wahlen durchgeführt wurde, geht hervor, dass den Wählern die folgenden Themen am meisten am Herzen liegen:

  • Bekämpfung der Armut und gesellschaftlichen Ausgrenzung (33 %)
  • Unterstützung des Gesundheitswesens (32 %)
  • Wirtschaftsförderung und Schaffung neuer Arbeitsplätze (31 %)
  • Verteidigung und Sicherheit der EU (31 %)
  • Maßnahmen gegen den Klimawandel (27 %)

Die enge Verflechtung dieser Themen ist frappierend. In dieser Legislaturperiode werden die Themen Verteidigung und Sicherheit immer wichtiger, vor allem angesichts des zunehmend willkürlichen und erbitterten Krieges Russlands gegen die benachbarte Ukraine. Etwa acht von zehn Befragten sind der Ansicht, dass die Bedeutung dieser Wahlen höher ist als in der Vergangenheit. Besonders auffällig ist der einheitliche Wunsch, die Position der EU in der Welt zu stärken, wobei Verteidigung (37 %), Nahrungsmittelsicherheit (30 %) und Energiesicherheit (30 %) die drei wichtigsten Themen sind.

Was bedeutet die neue rechte Welle in Europa für Anleger?

Die „große Koalition“ aus EVP und S&D wird (voraussichtlich) immer noch 42 % der Sitze haben (derzeit 45 %), und wenn sie mit der RE-Fraktion kooperiert, käme sie auf 54 %.5 Die Parlamentsmehrheit stünde rechts der Mitte. Größere Spannungen zwischen Brüssel und den Regierungen der Mitgliedstaaten könnte es unter anderem in Umweltfragen geben, wo sich die neue Mehrheit wahrscheinlich gegen umfassende EU-Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels aussprechen wird. Wir rechnen damit, dass die Bereiche Bürgerrechte, Justiz und Inneres auf die Länderebene verlagert werden, und dass der Schwerpunkt auf der Umsetzung einer restriktiveren Einwanderungspolitik zu einer Überarbeitung des EU-Asylrechts führen wird. Dies wäre ein Sieg für die neuen Populisten, der es den einzelnen Ländern erlauben würde, ihre eigenen Quoten für Flüchtlinge festzulegen.

Es steht zu erwarten, dass die Versuche, die einzelnen Regierungen bei der Einhaltung von Steuervorschriften und sogar bei der Justizreform auf Kurs zu halten, deutlich nachlassen werden, wie es in Ungarn der Fall war. Außerdem könnte es auf der Ebene der einzelnen Regierungen zu einer spürbaren Abschwächung der bestehenden Bestrebungen zur Förderung einer umweltfreundlichen Wirtschaft kommen, und zwar zugunsten der Interessen des ländlichen Raums und der Landwirtschaft. Man sollte sich darauf einstellen, dass noch mehr Versuche unternommen werden, große Technologieunternehmen unter Druck zu setzen.

Für Anleger erscheint uns dieses Szenario überraschend gut. Der gesamte Haushalt und die Haushaltsführung werden wahrscheinlich weiterhin stabil sein. Der Handel dürfte nach wie vor Priorität haben, auch wenn der Prozess des „Risikoabbaus“ gegenüber China weiter voranschreitet. Die europäischen Unternehmen dürften eine deutlichere Unterstützung durch die EU erfahren, insbesondere was den Schutz vor vermeintlich unfairen Wettbewerbern wie China betrifft. Wir glauben, dass das neue Parlament der Landwirtschaft, der Fischerei, der ländlichen Entwicklung, der industriellen Entwicklung und der Forschung Priorität einräumen wird.

Bereiche, die wahrscheinlich nicht mehr im Vordergrund stehen werden

 

Bereiche, die wahrscheinlich Priorität haben werden
Durchsetzung der EU-Gesetzgebung gegenüber
den Mitgliedstaaten
Grenzkontrolle
Fiskal- und Geldpolitik, unabhängige Justiz Einwanderungs- und Asylpolitik
Bürgerrechte und nationale Gesetzgebung Entwicklung ländlicher Regionen: verbesserte Infrastruktur
Umweltpolitik Landwirtschaft: Nahrungsmittelsicherheit
Green Deal; Netto-Null-Ziele; Renaturierung Internationaler Handel: ohne Angebot des Marktzugangs
Außenpolitik Verteidigung und Sicherheit
„Ausgewogene“ Beziehung zu China Höhere Verteidigungsausgaben auf Länderebene
Freihandelsabkommen Fortgesetzte Unterstützung der Ukraine

Aus unserer Sicht muss eine Zeit, in der die Fähigkeit zur Durchsetzung gemeinsamer Vorschriften in den Bereichen Wirtschaft, Steuern und Regulierung eingeschränkt ist, langfristig kein strukturelles Problem darstellen. In vier Jahren könnte das Pendel wieder umschlagen!

Fußnoten

  1. Quelle: „European elections 2024: people eligible to vote. “ Eurostat. 4. April 2024.
  2. Quelle: Eurobarometer-Umfrage. Durchgeführt im Zeitraum Februar 2024 bis März 2024.
  3. Quelle: European Council on Foreign Relations (ECFR), Positionspapier. 23. Januar 2024.
  4. Quelle: „Germany’s domestic secret service battles far-right AfD.“ Deutsche Welle. 10. März 2024.
  5. Quelle: European Council on Foreign Relations (ECFR), Positionspapier. 23. Januar 2024.
Redaktion

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