Rüdiger Rauls: Zutaten einer Verschwörungstheorie

von , 11.03.2021, 21:21 Uhr

Gastbeitrag von Rüdiger Rauls

Die Corona-Krise verschafft Verschwörungstheorien zusätzlichen Rückenwind. Doch ist jede andere Sicht gleich eine solche? Was ist charakteristisch für die Verschwörungstheorie und ihre Verfasser?

Ein Beispiel

Welcher Zutaten bedarf es, um eine Verschwörungstheorie entstehen zu lassen? Wie entsteht der Eindruck, es würden Geheimnisse aufgedeckt, die bisher verschwiegen worden seien? Wie kommt es dazu, dass viele Menschen glauben, dass all den Vorgängen in der Welt ein großer Plan zugrunde liegt, der im Hintergrund abgearbeitet wird? 

Am folgenden Text (Auf dem Weg von Corona zu "Great Reset" und Transhumanismus – Das China-Tabu) von Anneliese Fikentscher und Andreas Neumann  soll verdeutlicht werden, wie eine scheinbar schlüssige Argumentation aufgebaut wird, die dann in dem Versuch eines Erklärstücks mündet. Dabei soll es hier weniger um die Diskussion inhaltlicher Fragen gehen. Vielmehr geht es darum, die Muster verdeutlicht zu machen, die in solchen Darstellungen und Auseinandersetzungen zur Anwendung kommen.

Zitiert wird aus dem Gesamttext der erste Abschnitt, der von den Autoren als Hinführung zum Thema gedacht ist:

„Ist Fragen erlaubt? Ist es erlaubt, der Rolle Chinas in Zusammenhang mit der so genannten "Corona-Pandemie" nachzuspüren? Darf gefragt werden, ob Chinas Rolle womöglich über die reine Opfer-Rolle hinausgeht? Darf eine Mittäterschaft in Betracht gezogen werden? Nein, diese Frage geht zu weit, werden viele sofort einwenden. Das wäre Wasser auf die Mühlen der China-Feinde. Aber sei's drum! Fragen wir weiter.

(a) Stimmt es, dass der chinesische Staatspräsident Xi Jinping beim Weltwirtschaftsforum (World Economic Forum WEF), dem Treffen der Staats- und Konzernchefs aus aller Welt, aufgetreten ist? Stimmt es, dass der chinesische Staatspräsident in der Selbstdarstellung des WEF neben Bill Gates, der die ganze Weltbevölkerung impfen lassen will

(b), groß herausgestellt wird? Stimmt es, dass das Buch "Shaping the Future of the Fourth Industrial Revolution" des WEF-Gründers und Great-Reset-Propagandisten Klaus Schwab (in deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel "Die Zukunft der Vierten Industriellen Revolution")

(c) in China große Verbreitung gefunden hat? Stimmt es, dass Klaus Schwabs Sohn Oliver seit 2011 das WEF-Büro in Peking leitet? Stimmt es, dass das WEF seit Jahrzehnten gute Beziehungen zur Zentralregierung in Peking unterhält? Stimmt es, dass ein hoher Vertreter der chinesischen Seuchenbehörde beim Pandemie-Planspiel Event 201, das in Partnerschaft mit dem WEF und der Bill & Melinda Gates Foundation am 18. Oktober 2019 in New York stattgefunden hat

(d), dabei war? Stimmt es, dass es in Zusammenhang mit dem dubiosen PCR-Test, der allein in Deutschland bis Dezember 2020 über 30 Millionen Mal zum Einsatz gekommen ist

(e), Beziehungen von Christian Drosten mit China gegeben hat? Stimmt es, dass es einen Bezug zwischen der WEF-Konferenz im Januar 2020 und dem in die "Pandemie" mündenden Epidemie-Geschehen in China gibt? Das sind gewiss Fragen, die manch einer nicht gestellt sehen möchte. Trotzdem stellt sich die Frage, ob sie sich zuverlässig beantworten lassen – ob sie einer Überprüfung als Tatsachenbehauptung standhalten.“

Vorgefertigte Antworten

Der zitierte Text ist zweigeteilt, was auch optisch kenntlich gemacht wird. Er enthält einerseits eine Sammlung von Fragen. Diese sind im Normaltext gehalten. Kursiv hervorgehoben und mit den Buchstaben a-f gekennzeichnet, sind daneben Aussagen, die als Bekenntnis oder eine Art Programm verstanden werden können, vielleicht sogar so verstanden werden sollen.

In der weiteren Ausführung des gesamten Artikels werden zu diesen  Fragen auch Antworten gegeben. Dabei wird aber deutlich, dass die Antworten in der Frage bereits enthalten sind. Es sind rhetorische Fragen. Auf die Behauptungen, die man verkünden will, wurden die Fragen maßgeschneidert. Die Fragestellung dient also keinesfalls der Klärung von Inhalten. Es geht nicht um Erkenntnis. Es geht um die Bestätigung von vorgefertigten Meinungen.

Es geht ihnen nicht um Meinungsaustausch. Die Autoren suchen gar nicht nach Antworten, sie präsentieren welche. Es wird nicht untersucht, ob China sich tatsächlich mit den Eliten des Westens verschworen hat, wie der Text nahezulegen versucht. Es wird behauptet, dass es so ist. Fragen und Antworten sind so auf einander abgestimmt, dass sie die ursprünglichen Vermutungen zu Gewissheiten werden zu lassen. 

Dieses Frage-Antwort-Spiel manipuliert den Leser. Es entsteht der Eindruck, dass diese Fragen die des Lesers selbst sind. Dementsprechend sind die Antworten genau das sind, was er immer gesucht hat, bisher vielleicht auch nicht verstanden zu haben glaubte. Diese Manipulation geschieht nicht wissentlich und nicht bewusst. Hier manipulieren Manipulierte, die selbst verunsichert sind und dies hinter auftrumpfender Selbstsicherheit verbergen.
Unsicherheit ist eine der Zutaten, die Verschwörungstheorien hervorbringen. Bisheriges Weltbild zerbröckelt unter dem Druck der wirklichen Verhältnisse. Neue Entwicklungen in der Welt sind mit den bisherigen Sichtweisen der Verschwörungstheoretiker nicht mehr zu erklären. Das wird auch in weiteren Verlauf des untersuchten Textes deutlich. 

Den Text durchzieht die verloren gegangene Sicherheit bezüglich der eigenen Ansichten über den Sozialismus und die kommunistische Partei Chinas. Die Verfasser können sich die Politik der KP im Umgang mit der Pandemie nicht erklären. So passt es auch nicht zu ihrem bisherigen Bild, „dass das Buch eines der perfidesten Strategen der "westlichen" Welt in einem Land Verbreitung finden kann, das von einer Partei geführt wird, die sich "kommunistisch" nennt. Müsste sich ein Staat, der den "Kommunismus" anstrebt, sich nicht gegen derartiges Schriftgut mit aller Macht zur Wehr setzen?“

Dieser Widerspruch zwischen den eigenen Ansichten und der Wirklichkeit taucht gerade in Bezug auf die kommunistische Partei des öfteren in dem Text auf. Da sich die chinesische KP und das sozialistische China in einer solchen Frage anders verhalten, als es sich nach der Vorstellung der Verfasser verhalten müsste, ist für sie klar, dass China mit dem Westen unter einer Decke steckt. 

Es kommt den Autoren dabei aber nicht in den Sinn, dass vielleicht sie selbst es sind, die in einer Vorstellungswelt leben, die der realen Welt nicht entspricht. So taucht nirgendwo der Schimmer eines Zweifels auf, dass vielleicht sie selbst falsch liegen könnten in der Einschätzung von Sozialismus und kommunistischer Partei anstatt der 1,4 Milliarden Chinesen.

Überlegenheit

Zweifel gehören nicht zum Repertoire von Verschwörungstheoretikern. Vielmehr ersticken sie diese in einem Wortschwall von Theorien, Fakten, Vermutungen, Rückschlüssen oder neuen Fragen, die sie über einem Andersdenkenden ausschütten. Sie lassen ihn nicht zu Wort kommen. Sie wollen Recht behalten, nicht neue Erkenntnisse gewinnen. Die Abwehr anderer Ansichten unter ihrem Wortschwall ist Ausdruck ihrer Unsicherheit, die als solche aber von ihnen nicht wahrgenommen wird.

Dass andere Meinungen gegen sie nicht ankommen, werten sie als Beweis der eigenen Überlegenheit.  Dieses Gefühl eigener Informations-Überlegenheit ist eine weitere Zutat von Verschwörungstheorien. Diese bezieht sich einerseits auf die Qualität der eigenen Informationen. Sie werden denen der Andersdenkenden als überlegen dargestellt werden.

Der Verschwörungstheoretiker weiß besser Bescheid, hat die besseren und einzig wahren Informationen, denn diese entspringen in der Regel alternativen Quellen. Sie stützen sich meist auf Medien oder Menschen, die unbedenklich sind, weil sie keinen Interessen zu dienen vorgeben oder  scheinen. 

Denn sie sind im Gegensatz zu den sogenannten Mainstream-Medien oder den sogenannten Handlangern des Systems nicht korrupt wie die unter vielen Querdenkern hoch angesehenen Ärzte Wolfgang Wodarg, Sucharit Bhakdi und andere. Deren  Aussagen haben für ihre Anhänger im Gegensatz zu den Millionen anderen Ärzten allein deshalb einen höheren Wahrheitsgehalt, weil sie ähnlich ablehnend den Beschlüssen der Regierungen gegenüberstehen wie die Querdenker selbst.

In dieser Sichtweise offenbart sich neben der informationellen Überlegenheit auch eine weitere Zutat von Verschwörungstheorien, die moralische Integrität. Wer nicht korrupt ist und sich nicht auf die fragwürdigen Quellen des Mainstream stützt, kann auch als moralisch überlegen angesehen werden. 

Dieser Anschein moralischer Integrität wird oftmals verstärkt durch eine Selbsteinschätzung und Selbstdarstellung von Märtyrertum, Revoluzzertum oder gar des Verfolgten, der sich aufopfert für die gerechte Sache. So sehen sich beispielsweise viele Querdenker als die eigentlichen und einzig aufrichtigen Verteidiger des Grundgesetzes und seiner demokratischen Werte gegen einen aufkommenden neuen Faschismus.

Auch im vorliegenden Text geben sich die Verfasser kompromiss- und tabulos (siehe dazu die Hervorhebungen a-f). Sie stellen die Fragen, von denen sie zu glauben scheinen, dass sich das sonst niemand traut. Nur sie scheinen den Mut dazu zu haben, selbst auf die Gefahr hin, dass es sich dabei um Fragen handelt, „die manch einer nicht gestellt sehen möchte“.1 Das erweckt den Eindruck moralischer Integrität.

Nur: bei genauerem Hinsehen entpuppen sich diese Fragen nicht gerade als solche, die Welt aus den Angeln heben. Sie sind eher banal. So wird dem chinesischen Parteichef Xi Jingping angekreidet, dass er  „in der Selbstdarstellung des WEF neben Bill Gates … groß herausgestellt wird“2. Dabei wird aber anscheinend übersehen, dass auf demselben Bild auch Nelson Mandela und der Musiker Elton John neben Bill Gates in Erscheinung treten. Es stellt sich nun die Frage, ob auch diese Teil jener Verschwörung sind, für die die Autoren in dem Gruppenbild einen Beleg zu sehen glauben.

Die oben gestellten Fragen gewinnen ihre angenommene Bedrohlichkeit nur aus dem Eigenverständnis der Fragesteller selbst, dass es nämlich eine Verschwörung gibt, die sie aufdecken. Sie sehen sich als diejenigen, die den Herrschenden einen Strich durch die Rechnung machen. 

Realität als Quelle

Nun sind die Verschwörungstheorien nicht als Kopfgeburten aus sich selbst heraus entstanden. Sie sind vielmehr Reaktionen auf politische und gesellschaftliche Ereignissen, die andere zu verantworten haben. Sie  sind Erklärungsversuche für Vorgänge, die anders eingetreten sind, als nach dem bisherigen Weltbild erwartet werden konnte. Aber sie haben ihren Ursprung in der Realität.

Das wird am obigen Beispiel deutlich in der veränderten Einstellung der Autoren gegenüber der Politik der chinesischen Kommunisten. Für sie sind letztere Teil des Komplotts geworden, weil sie eine andere Politik betreiben, als sie nach der Auffassung der Autoren betreiben müssten, um als Kommunisten gelten zu können.

Insofern kann den Verschwörungstheoretikern nur eine begrenzte Verantwortung für die Verwirrung gegeben werden, die sie verbreiten. Denn sie sind selbst Verwirrte. Sie sind verunsichert durch gesellschaftliche und politische Vorgänge, die sie nicht nachvollziehen können und deren Verursacher andere sind. 

Diese Verursacher sind in erster Linie die herrschende Politik, die jene Tatsachen schafft, die die Verschwörungstheoretiker nicht mehr verstehen. Aber für die Verwirrung sorgen auch die Medien, Meinungsmacher und sogenannte Experten, die die Politik der Regierenden und Herrschenden gegenüber der Bevölkerung zu erklären und zu rechtfertigen versuchen.

Politik und Erklärungen stehen sehr oft im Widerspruch zu den Grundsätzen und Werten, die besonders im Westen immer wieder als Grundlage politischer Entscheidungen und Handlungen ausgegeben werden. Diese Widersprüche werden immer deutlicher und bestimmender. Sie sind die Grundlage der Verschwörungstheorien. Deren Verfasser sind eigentlich jene Gutgläubigen, die sich diesen Werten verbunden gefühlt und selbst zu vertreten versucht hatten. Sie haben diese Werte ernst genommen, ernster jedenfalls als jene, die sie immer wie eine Monstranz vor sich hertragen.

Sie sind die Getäuschten, die sich nun enttäuscht abwenden und nach Erklärungen für dieses Missverhältnis suchen. Nicht umsonst verstehen sich gerade viele Querdenker als die wahren und rechtmäßigen Verteidiger der Grundrechte des Grundgesetzes und der demokratischen Werte. Sie fühlen sich diesen Werten immer noch verbunden und sehen sich aber von jenen betrogen, die diese Werte und Grundrechte anders auslegen und handhaben als sie selbst. 

Sie unterliegen dem Irrglauben, dass es nur eine Auslegung geben kann, nur eine verbindlich ist und zwar die ihre. Sie erkennen nicht, dass nicht die Auslegung der Werte und Grundrechte durch die Regierenden widersprüchlich ist, sondern vielmehr diese Werte selbst es in sich haben, die Sprengkräfte zu entfalten, die sich nun in der Gesellschaft auftun. 

Im Räderwerk

Die Grundrechte sind nicht absolut. Sie scheinen nur so. In Wirklichkeit sind sie, eingeschränkt. Sie sind die gut gemeinten  Absichten, die aber von anderen Gesetzen und Verordnungen erst alltagstauglich und gesellschaftsfähig gemacht werden. Sie stehen auf dem Papier, unterliegen in Alltag und Wirklichkeit aber dem Gezerre der Interessen. Sie gelten nur, soweit keine anderen Interessen berührt sind. Und diese bekommen Kraft und Wirkung durch die präzisierenden gesetzlichen Regelungen. Die meisten Grundrechte werden durch Gesetzgebung eingeschränkt und verstümmelt. 

Herrschende Politik kommt nun zwischen die Mühlsteine der praktischen Politik im Alltag und den Werten, mit denen sie den Menschen in den Sonntagsreden die Hirne vernebelt hat. Je mehr herrschende Politik Herrschaft ausüben muss, um die Gesellschaft vor ihren inneren Widersprüchen zu schützen, umso deutlicher wird, dass nicht allen Interessen in gleichem Maße gedient werden kann. Die Interessen der Wirtschaft gehen vor. Das hat sich in jeder Krise der letzten Jahre gezeigt. 

Wenn auch das Volk glaubt und ruft: „Wir sind das Volk“, so bedeutet das aber nicht, dass die Interessen des Volkes über denen der anderen gesellschaftlichen Kräfte stehen. Alle gesellschaftlichen Gruppen gehören zum Volk. Insofern kann jede für sich diesen Protestruf beanspruchen. Aber das Gewicht der Interessen ist unterschiedlich. Das wird immer mehr Menschen immer mehr deutlich, und das ist es, was sie verwirrt und zu wirren Erklärungsversuchen führt von Verschwörungen und Geheimbünden. 

Es gibt unterschiedliche Interessen, und es gibt auch Interessengruppen mit unterschiedlichem Einfluss. Aber es gibt keine Verschwörungen. Das haben die Herrschenden nicht nötig – im Moment jedenfalls. Sie haben die Gesetze, die sie schützen. Sie haben die Medien, die ihre Interessen als rechtmäßig und berechtigt darstellen. Sie haben ihre Wissenschaftler und Experten, die ihr Vorhalten als  vernünftig und alternativlos erklären. Und sie haben Regierungen, die in ihrem Interesse Politik machen, indem sie die gesellschaftlichen Widersprüche überdecken und damit die Gesellschaft befrieden. 

Denn die Herrschenden sind nur wenige. Die Beherrschten sind die Mehrheit. Gegen diese Mehrheit kann die Minderheit nicht bestehen, wenn die Mehrheit sich ihrer Interessen bewusst wird und sich dafür einsetzt. Das aber ist ein langwieriger Erkenntnisprozess, und noch beschwerlicher ist es, sich für die Durchsetzung dieser Interessen politisch zu organisieren. Aber dabei helfen keine Verschwörungstheorien. Um die Verhältnisse zu verändern ist das Erkennen der Wirklichkeit Voraussetzung. An ihr messen sich die Theorien. Aber Theorien, die der Wirklichkeit nicht entsprechen, sind falsch und damit nicht hilfreich.

Rüdiger Rauls Buchveröffentlichungen: 

Herausgeber von:

Imre Szabo: Die Hintermänner (ein politischer Krimi)
Imre Szabo: Die Unsichtbaren (ein politischer Krimi)

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