Wenn redaktionsschlußbedingt diese Zeilen geschrieben werden, hat die Wahl zum Europäischen Parlament noch nicht begonnen und wenn Sie dies lesen können, ist sie längst vorüber. Doch das macht rein gar nichts. Denn uns kommt es in erster Linie nicht auf aktuelle Wahlergebnisse an, sondern auf mittel- und langfristige Entwicklungen, auf grundlegende Strömungen. Wahlergebnisse mit den dann folgenden politischen Entscheidungen sind das Ergebnis dieser Strömungen.
In der SPD gibt es seit einiger Zeit eine neue Strömung, die den Namen „Kevin Kühnert“ trägt. Der aktuelle Vorsitzende der Jungsozialisten sinniert nämlich nicht nur über den Sozialismus, sondern er arbeitet auch nach wie vor zielstrebig auf ein Ende der Großen Koalition hin. Dabei sollte man den 29-jährigen Jungpolitiker nicht unterschätzen. Er war bisher zwar nicht in der Lage, einen Beruf zu erlernen oder ein Studium abzuschließen. Doch deshalb sollte und darf man ihn (wie übrigens die meisten derartigen „Versager“) nicht als „dumm“ bezeichnen. Er hat vielmehr einen sehr wachen Geist und verfügt über ein bemerkenswertes politisches Talent. Daß ihm die nicht nur für einen Politiker wertvollen Einblicke in die Arbeitswelt weitgehend fehlen, das steht auf einem anderen Blatt.
Für Kühnert, in dessen Gedankenwelt eine gewissermaßen untergehende SPD natürlich keinen Platz hat, ist jedes Jahr und jeder Monat, die sich die Große Koalition am Leben hält, verschwendete Zeit. Er weiß genau, daß die SPD zum Überleben neue Visionen braucht, die konservative Denker wohl erschrecken werden. Es geht um ein rot-rot-grünes Bündnis auf Bundesebene – von den Verfechtern auf neudeutsch gerne mit „R2G“ abgekürzt. Kühnert steht dafür in den Startlöchern. Für ein Linksbündnis auf Bundesebene, für eine deutliche Neuausrichtung der Republik.
Gemeinsam mit führenden Köpfen der SED-Folgeorganisation Linkspartei und Politikern der Grünen, die wie Kühnert als „linke Wölfe“ anzusehen sind, sich aber oftmals noch den Schafspelz überstreifen. Dazu zählt auch der Grünen-Vorsitzende (und denkbare Kanzlerkandidat) Robert Habeck, der sich auf der einen Seite gerne staatstragend-harmlos gibt, aber andererseits wie Kühnert den Eigentumsbegriff des Grundgesetzes „enteignungsfreundlich“ auslegt. Habeck müßte es aufgrund seines Alters noch wissen und Kühnert hätte es sich sagen lassen sollen:
In einem Teil Deutschlands wurde schon einmal der linke „Traum“ enteigneter Firmen, Ackerflächen und Wohnhäuser realisiert. Firmengewinne konnten dann nicht mehr „ungerecht“ verteilt werden, denn es gab keine. Und Wohnungen waren zwar billig, aber gleichfalls Mangelware und in späteren Jahren oft völlig heruntergewirtschaftet, weil nichts mehr investiert wurde. Die Folge war eine jahrzehntelange Abwärtsspirale und den dort lebenden Menschen mußte die Flucht aus dem „real existierenden Sozialismus“ unmöglich gemacht werden. Wer sie dennoch wagte, riskierte sein Leben.
Und damit niemand auf den Gedanken kam, das „real existierende Elend“ offen auszusprechen, gab es eine intensive Überwachung aller Bürger. Erst als fast alles dem unweigerlichen Verfall preisgegeben war, wurde den „bösen“ Kapitalisten gestattet, die „guten“ Sozialisten zu retten. Daß eine erfolgreich wirtschaftende Volkswirtschaft nicht ohne marktwirtschaftliche Grundideen auskommt, schwante in der Bundesrepublik der 1950er Jahre schließlich auch den Sozialdemokraten, was zum Beschluß des bis heute bekannten „Godesberger Programms“ führte. Es war ein Bekenntnis zur Sozialen Marktwirtschaft, das in den letzten Jahren von der SPD-Linken allerdings zunehmend in Frage gestellt wurde.
Gleichwohl bastelt man nun an verschiedenen Orten an „R2G“, was rein wahltechnisch gar nicht so aussichtslos scheint. Denn aktuell könnten Grüne, Linkspartei und SPD um die 45 % der Wählerstimmen auf sich vereinigen. Für eine (knappe) Regierungsmehrheit würden damit schon zwei bis drei zusätzliche Prozentpunkte insgesamt reichen! Der Jungsozialist Kühnert könnte damit schneller an politische Verantwortung gelangen als uns lieb sein kann. Mit seinem großen politischen Talent wird er dafür – und nur in seinem linken Sinne – gerüstet sein; auch ohne Berufsausbildung . . .! (tb)
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