Nachdem die Rezessionsgefahr vorerst gebannt ist, stellt sich eine neue Herausforderung, die auch die Wirtschaftsweisen benennen: Der Strukturwandel. Die Presse schlägt bereits wieder Alarm, der Netzausbau erfolgt zu schleppend, Deutschland hinkt bei der Digitalisierung hinterher. Kann Deutschland Digitalisierung, wird es „den Strukturwandel meistern“?
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von Oliver Krautscheid
Die Frage kann man mit einem vorsichtig-optimistischen „Ja.“ (bewusst Punkt statt Ausrufezeichen) beantworten. Zwar mag es in der Presse anders bis gar pessimistisch klingen, besonders nachdem der ARD-Bericht von der Digitalklausur des Bundeskabinetts in Merseburg am Montag (18.11.2019) wohl wegen eines Funkloches abgebrochen werden musste. Das mag zwar die Twitter-Community erheitern und Journalisten kurzfristig Munition für Häme und Spott liefern, aber es trifft nicht den Kern der Sache und zudem hat Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) ja verkündet, dass die Bundesregierung die Funklöcher mit 1,1 Milliarden Euro zu stopfen plant.
Denn Deutschland kann „digital“ und wird den Strukturwandel auch durchstehen – ohne dass die Volkswirtschaft oder große Teile der Arbeitnehmerschaft auf der Strecke bleiben –, wenn (!) wir aus den Vergangenheit Lehren ziehen. Doch vor dem Lehrschluss noch ein paar kurze Erläuterung zu den in aller Munde befindlichen Buzzwörtern „Digitalisierung“ und „Strukturwandel“.
Was bedeuten Digitalisierung und Strukturwandel überhaupt?
Buzzwort Nummer 1, „Digitalisierung“, meint viel weniger die Umwandlung analoger Werte in digitale Formate – die eigentliche Wortbedeutung –, sondern das, was als „digitale Revolution“ oder „digitale Transformation“ bezeichnet wird. Die grundlegende Veränderung unserer Gesellschaft durch neue Techniken der Informationsgewinnung und -verarbeitung, überhaupt neue Technik, die in immer schnellerer Folge entwickelt wird, so Basis für weitere neue Entwicklungen ist und immer schneller und umfassender Eingang in unser Leben und insbesondere die Wirtschaft findet (Stichwort „Digital Business Transformation“). Buzzwort Nummer 2 der „Strukturwandel“: Der hat es in sich, kann er doch die Veränderung der Gesellschaft als Ganzes – auch global – meinen, wenn er im Sinne einer soziologischen Theorie, die Gesellschaft als Strukturgebilde erhält ihre eigene Existenz, verwandt wird oder nur einen örtlich begrenzten regionalen Wandel meinen. Für diesen Text wird davon ausgegangen, dass die Meisten, die dieses Buzzwort nutzen, den wirtschaftlichen Strukturwandel meinen (oder schlimmer, gar nicht wirklich wissen, was Strukturwandel eigentlich meint).
Die digitale Transformation geht Hand in Hand mit dem Strukturwandel – er ist mit Auslöser des Letzteren. Vom Fließband, an dem noch Facharbeiter werken, hin zur vollautomatisierten (Giga-)Fabrik, wie sie etwa Elon Musk ins brandenburgische Brachland bei Berlin bauen will. Die Werkschaffung mit den Händen weicht dem Tippen endloslanger Zeilen Softwarecode fern deutscher Anwender im Silicon Valley oder Indien, dem Überwachen hochkomplexer, computergesteuerter Maschinen durch eine Minimalbelegschaft oder dem völlig neuen Beruf des „Social Media Managers“ – so wird die Bedrohungskulisse häufig gezeichnet. Das Unbehagen vieler (älterer) Arbeitnehmer ist nachvollziehbar. Die Wandlung bestehender Strukturen ist immer auch ein sozialer Transformationsprozess. Verändert sich die Industriestruktur einer Region, dann verändert das auch die Menschen mit teils dramatischen Auswirkungen, die individuell und institutionell verarbeitet werden müssen.
Strukturwandel meistern – Lehren aus der Vergangenheit
Solche Veränderungen können, wenn Akteure und Betroffene schlecht oder völlig unvorbereitet getroffen werden, später sehr deutlich an der Arbeitsmarktstatistik abgelesen werden. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Strukturwandel in den neuen Bundesländern nach der Wiedervereinigung. Plötzlich kam die Treuhand. Alles wurde abgewickelt, umgewandelt oder fusioniert – dass hinter jeder Abwicklung und Umwandlung aber auch hunderte und tausende persönliche Schicksale standen, wurde nicht ausreichend bedacht.
Die Wirtschaftsweisen sehen – wie der Autor ebenfalls – keine Rezession voraus, jedoch die klare Herausforderung, die Folgen der digitalen Transformation für die, die sich nicht im Tempo der Bites und Bytes wandeln oder gar neu erfinden können abzufedern und gleichzeitig Deutschland darüber nicht unattraktiv für die Wirtschaft der Zukunft zu machen. Sie haben ihren Jahresbericht 2019/20 deshalb auch „Den Strukturwandel meistern“ betitelt.
Doch nicht nur „der Osten“ hat einen Strukturwandel erlebt, auch „der Westen“ Deutschlands hat ihn erlebt, wenngleich nicht so dramatisch und scharf wie die neuen Bundesländer, wo es 1993 in Bischofferode sogar zu einem Hungerstreik von Kalibaubergmännern kam, der Bundeskanzleramt und Treuhand zum Einlenken zwang. Der Strukturwandel im Westen war Folge der einsetzenden Globalisierung, vieler internationaler Fusionen und der Verlagerung der Werkarbeit in Billiglohnländer – oder haben Sie heute (noch) einen Fernseher von SABA? Der heimisch produzierte Fernsehapparat war ab den 1970ern einfach nicht mehr konkurrenzfähig und wie SABA erging es vielen Unternehmen – es kam zum Strukturwandel. Ein weiteres Beispiel ist das Druckgewerbe. Gab es 1970 in Deutschland noch eine Viertelmillion Beschäftigte in diesem Bereich, sind es 2018 nur noch 140.000 gewesen. Drucker und Druckerinnen von heute sind nicht mehr (nur) Spezialisten für Blei- oder Fotosatz, sondern medienübergreifende, analoge wie digitale Dienstleister; der 3D-Druck ein neues Feld. Auch hier zeigt sich: Der Strukturwandel kann überstanden werden, wenn rechtzeitig und richtig auf Änderungen reagiert wird. Der wirklich Erfolgreiche agiert und reagiert nicht.
Innovationskraft: Wo entwickelt wird, muss auch produziert werden
Dieses richtige (Re-)Agieren passiert bereits vielerorts. Wichtig ist zunächst, dass das Produktionswissen auch in den Entwicklungsprozess einfließen kann oder anders ausgedrückt, Entwicklung und Produktion sollten nicht komplett räumlich getrennt werden. Wer glaubt, in Deutschland entwickeln und bei niedrigsten Lohnkosten allein etwa in Südostasien oder anderswo produzieren zu können, verliert – das zeigen diverse Studien – an Innovationskraft. Der Rest ist Aus- und Weiterbildung und hier muss nicht mehr beim kleinen Einmaleins begonnen werden. Heutige Facharbeiter in der Autosindustrie sind in der Regel bereits mit SPS- und cnc-Programmierung betraut; kennen die digitalen Systeme an ihrem Arbeitsplatz, da Montage und Instandhaltung längt zu (teilweise) digital gesteuerten Prozessen geworden sind. Mit diesen Facharbeitern kann die Industrie in die Zukunft gehen – der Strukturwandel wird sicher ein weiteres an Weiterbildung, aber keine komplett neue Ausbildung von diesen Beschäftigten fordern.
Die Unternehmer müssen der Versuchung des Heruntersetzens von Löhnen, Tarifgebundenheit und der billigen Angebote des Auslands widerstehen, um langfristig die Innovationskraft des Industriestandortes Deutschland zu erhalten und so mit „made in Germany“ konkurrenzfähig zu bleiben – und die Politik muss das unterstützen und fördern.
Politik muss selbstbewusst fördern und kommunizieren
Die Politik muss ihre Wirtschaftsstrategie so (um)gestalten, dass sie die Wirtschaft mit Selbstbewusstsein fördert, agiert und nicht nur bloß reagiert (das Internet ist eben nicht mehr für alle Neuland, erst recht nicht im globalen Wettbewerb). Fast noch wichtiger ist andauernde Kommunikation von Politik und Wirtschaft. Wenn der ostdeutsche Strukturwandel in den 1990ern eines gezeigt hat, dann das Kommunikation immens wichtig ist, um Betroffene nicht zu verunsichern. Der eingangs erwähnte Hungerstreik der thüringischen Kalikumpel ist untrennbar mit kommunikativen Versagen seitens Politik und der damaligen Treuhand verbunden gewesen. Die Beteiligten redeten erst anderthalb Jahre nach endgültiger Schließung des Kaliwerks wieder miteinander.
Politik und Wirtschaft müssen das, was sie wollen, deutlich als Ziel benennen und das wird nur eines sein können: einen innovativen Industrie- und Wirtschaftsstandort Deutschland. Mit gegenseitigem Vertrauen und gegenseitiger, ernst genommener (!) Selbstverpflichtung kann Deutschland „digital“, kann Deutschland „innovativ“ und vor allem „den Strukturwandel meistern“.
Über Oliver Krautscheid
Oliver Krautscheid betreibt das Wirtschaftsportal: https://www.oliver-krautscheid.com/oliver-krautscheid und das neue deutsche Internetportal für Drohnenenthusiasten: https://www.dronestagram.de. Der Autor ist erreichbar unter oliver@krautscheid.ch