Deutschland wäscht sich kollektiv die Hände, als wenn es kein Morgen mehr gäbe. Weil das ja bekanntlich gegen das Coronavirus und dessen Ausbreitung hilft. Zusätzlich kaufen sich die Deutschen allerdings auch noch tonnenweise Desinfektionsmittel. Man will schließlich auf Nummer sicher gehen. Doch im Eifer des Gefechts züchten wir damit einen fast vergessenen Feind im Hintergrund weiter zu neuer Größe heran. Von ihm werden wir nach der “Corona-Krise” sicher schneller wieder hören, als uns lieb ist …
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Händewaschen: 30 Sekunden “Happy Birthday” singen
Seit Wochen geht es um nichts anderes. Corona hier. COVID-19 dort. Und natürlich das Händewaschen nicht vergessen und dabei “Happy Birthday” singen. Mindestens 30 Sekunden lang. Da der Mensch aber zu Übertreibungen neigt und seine gehamsterten 50 Liter Desinfektionsmittel (bei Preisen von mittlerweile 19 EUR und mehr pro Liter!) schließlich auch einen Nutzen haben sollen, desinfiziert sich der aufgeklärte Deutsche heutzutage vor und nach allen Gelegenheiten zusätzlich auch noch seine Hände und seine unmittelbare Umgebung. Das bleibt auf Dauer nicht ohne Folgen.
“Jetzt waschen wir unsere Schutzmechanismen runter”
Während Zahnärzten ihre Patienten aka Umsatzbringer wegbleiben, können sich Hausärzte derzeit über einen erhöhten Zulauf freuen. Wie die Hautärztin Yael Adler am 7. April 2020 im Podcast von Stern und RTL berichtet, kommen immer Menschen mit angegriffenen und geschundenen Händen zu ihr in die Praxis: "Es kommen ganz viele Patienten mit Handekzemen. Die können ihre Hände schon gar nicht mehr waschen, weil die so aufgegangen, so schmerzhaft sind. Denen tut alles weh. Und das liegt am vielen Waschen und auch am Desinfizieren. Jetzt waschen wir uns unsere Schutzmechanismen runter."
Ob das Corona-Virus auch durch die angegriffene Haut in den menschlichen Körper eindringen kann, müssen Christian Drosten und seine Kollegen beurteilen. Gut ist der kollektive Waschzwang in Kombination mit aggressiven Desinfektionsmitteln für die Haut auf Dauer sicher nicht. Überstrapazierte Haut und Hautekzeme an den Händen sind allerdings noch das geringste Übel.
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BfR und RKI raten von Desinfektionsmitteln ab
Sowohl das Robert Koch-Institut (04.04.2020)
"Eine routinemäßige Flächendesinfektion in häuslichen und öffentlichen Bereichen, auch der häufigen Kontaktflächen, wird auch in der jetzigen COVID-Pandemie nicht empfohlen. Hier ist die angemessene Reinigung das Verfahren der Wahl. Davon unbenommen sind Situationen, in denen an COVID-Erkrankte im häuslichen Umfeld versorgt werden."
als auch das Bundesinstitut für Risikobewertung (22.04.2014)
"Ein gesundheitlicher Nutzen ist mit der Anwendung solcher Desinfektionsmittel nicht immer verbunden oder zweifelsfrei belegt. Zu bedenken sind gesundheitliche Risiken, die von den Produkten ausgehen können. Diskutiert wird zudem das Risiko einer Resistenzbildung von Mikroorganismen gegen die eingesetzten bioziden Wirkstoffe.
Aus Sicht des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) sollten daher im Privathaushalt Desinfektionsmittel nur in begründeten Ausnahmefällen verwendet werden"
raten übrigens von der Nutzung von Desinfektionsmitteln im privaten und häuslichen Bereich ab. Die begründeten Ausnahmen sind jeweils auch in den Quellen mit aufgeführt.
Das BfR gibt zudem den entscheidenden Hinweis, warum wir uns nicht ständig Desinfektionsmittel auf die Hände kippen: Es besteht die Gefahr von Resistenzbildung bei Mikroorganismen.
Lang ist’s her: Die Sache mit den Krankenhauskeimen
Erinnern Sie sich noch daran, als vor ein paar Jahren in den Medien ausführlich und ganz dramatisch über Krankenhauskeime berichtet wurde? Genau! Das ist die Art von Bakterien, gegen die so gut wie kein Antibiotikum mehr hilft/wirkt und mit dem sich laut Robert Koch-Institut vom 15.11.2019 in Deutschland jedes Jahr ca. 400.000 bis 600.000 Mensch infizieren. 10.000 bis 20.000 Menschen sterben zudem jährlich an den Folgen dieser schweren Infektion. Bei diesen Zahlen wirken die aktuellen Fallzahlen zu COVID-19 in Deutschland (ca. 125.500 Infizierte, ca. 2.871 Tote; Stand: 12.04.2020) noch vergleichsweise harmlos.
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Desinfektionsmittel: Gut gegen das Coronavirus, schlecht in Bezug auf Antibiotika-Resistenzen
Schon im Jahre 2009 berichtete der SPIEGEL darüber, dass Desinfektionsmittel Antibiotika-Resistenzen begünstigen und auslösen können. Der Grund ist simpel: Während Ärzte, Pflegepersonal und Hausärzte wissen wie Desinfektionsmittel richtig angewendet, wissen das private Anwender oftmals nicht. Das folgende Anwendungsvideo verdeutlicht die Komplexität. Mit 30 Sekunden “Happy Birthday” singen ist es hier nicht getan.
Auch neuere Untersuchungen deuten darauf hin, dass Desinfektionsmittel, falsch angewendet, eher schaden als nutzen. So berichtete APOTHEKE ADHOC in dem Artikel “Resistenzen durch Desinfektionsmittel?” vom 30.07.2019 wie folgt:
“Bei regelmäßigem Gebrauch von Desinfektionsmitteln werde die Bildung resistenter Keime gefördert, zudem stiegen die Belastungen für die Umwelt. Aber auch der Anwender selbst setzt sich Gefahren aus: „Beim Kontakt mit Desinfektionsmitteln wird die natürliche Schutzbarriere der Haut gestört. Dadurch können Krankheitserreger schneller in die so geschädigte Haut eindringen.“ Im Normalfall reiche das regelmäßige Händewaschen jedoch auch.“
UND
“Im vergangenen Jahr zeigte auch eine im Fachjournal „Science Translational Medicine“ veröffentlichte Studie, dass Bakterien nicht nur gegen Antibiotika, sondern auch Antiseptika resistent werden können. Obwohl aufgrund von antibiotikaresistenten Erregern wie Staphylococcus aureus (MRSA) strikte Hygienemaßnahmen eingeführt wurden, ist die Zahl der Infektionen mit dem gegen verschiedene Antibiotika resistenten Keim Enterococcus faecium angestiegen.”
Renaissance der Krankenhauskeime?
Viel hilft also in diesem Fall auch nicht viel. Besonders dann nicht, wenn die Anwendung von Desinfektionsmitteln in “falschen Händen” mangelhaft ist falsch und ausgeführt wird. Kurzfristig mag die gesteigerte Hygiene sicher ein wichtiges und sinnvolles Mittel bei der Bekämpfung des Coronavirus sein. Mittel- und langfristig besteht darin allerdings die Gefahr, dass sich Resistenzen weiter verfestigen und neue Resistenzbildung bei Mikroorganismen “herangezüchtet” werden. Und im Gegensatz zu COVID-19 sind hier auf absehbare Zeit keine Heilmittel – abgesehen von der experimentellen Phagentherapie – in Sicht. In Zukunft, nach dem Ende der Coronavirus-Pandemie, könnten also wieder “alte Bekannte” zurück ins Bewusstsein rücken, die aktuell verdrängt und "vergessen" werden.