Die Digitalisierung schreitet unaufhaltsam und immer schneller voran; von der „digitalen Revolution“ ist die Rede, die Wirtschaftsweisen der Bundesregierung gaben gar die Losung „den Strukturwandel meistern“ heraus. Doch diese Revolution, dieser Wandel verändert auch die Tätigkeit von Gesellschaftsorganen, wie etwa des Aufsichtsrats einer AG und nicht jeder, sondern tatsächliche viele Aufsichtsräte sind hierauf nicht vorbereitet, nicht richtig besetzt.
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von Oliver Krautscheid
Der Aufsichtsrat ist ein Kontrollgremium. Als mit der 1. Aktienrechtsnovelle zum 11. Juni 1870 das „Gesetz, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien und die Aktiengesellschaften“ im norddeutschen Bund in Kraft trat, wurde die Überwachung der Aktiengesellschaft bzw. ihrer Leitung dem Staat entzogen und dem Aufsichtsrat als einem privatrechtlichen Gremium anvertraut. Deutschland und die Gesetze änderten sich zwar seit dem immer wieder – 1965 löste der Bundesgesetzgeber das „reichsdeutsche“ Aktiengesetz von 1937 mit dem neuen Aktiengesetz ab – aber die Stellung und Aufgaben der Organe blieben im Wesentlichen gleich bis heute.
Seit 1870 Aufsichtsrat: Die Digitalisierung konnte niemand voraussehen
Die Digitalisierung konnte der Gesetzgeber der Vergangenheit nicht ahnen, der Gesetzgeber von heute weiß (noch) nicht so recht, wie mit ihr umzugehen sein soll. „Den Strukturwandel meistern“ ist die Losung, die die Wirtschaftsweisen im Jahresbericht 2019/20 ausgaben. Gleichwohl gibt es bereits auf nationaler und Ebene der Europäischen Union eine Vielzahl an Regelungen, die die Digitalisierung aber auch die Tätigkeit des Aufsichtsrates im Zeitalter der Digitalisierung betreffen und es werden zukünftig sicher noch mehr.
Doch nicht nur der Gesetzgeber ist gefragt, auch die Konzerne selbst: Denn auch, wenn immer mehr Vorstände sich mittlerweile „Chief Digital Officer“ zulegen – ihre „Digital-“ oder „IT-Kompetenz“ im Leitungsgremium ausbauen –, wird leider immer noch häufig übersehen, dass die teils radikalen Veränderungen in Geschäftsmodellen und Organisationsstrukturen auch den Aufsichtsrat mit völlig neuen Fragestellungen und Risikolagen konfrontiert.
Völlig neue Fragestellungen und Risikolagen für den Aufsichtsrat
So verwundert es nicht, dass die „FAZ Online“ erst im Mai 2019 titelte „Viele Aufsichtsräte sind falsch besetzt“. Die „FAZ Online“ macht in ihrem Artikel mehrere Schwachpunkte aus, die der Garantie einer effektiven Governance in Zeiten der digitalen Transformation im Wege stehen. So fehlt es vielen Aufsichtsrat-Mitgliedern bereits an „digitaler Erfahrung“; dies liegt schlicht am Altersdurchschnitt vieler Aufsichtsräte. Wer der Generation der „Boomer“ oder einer noch früheren angehört, tut sich oft schwer, Geschäftschancen und Risiken digitaler Technologien zu beurteilen, Talente der Millennial- oder Touchscreen-Generation zu erkennen und zu entwickeln. Hier besteht dann Nachholbedarf, der weit über die Ausgabe eines dienstlichen Smartphones hinausgehen muss.
Die Schwachpunkte: zu alt, gestrige Kontrollgrößen und zu enger Fokus
Doch Aufsichtsräte sind häufig nicht nur „zu alt“ in dem Sinne, dass sie „digitalen Nachholbedarf“ haben; es wird auch weiter auf zum Teil überholte Mess- und Steuergrößen zurückgegriffen. Der Erfolg digitaler Transformationsprozesse lässt sich eben schlecht mit jahrzehntelang verwendeten finanztechnischen Größen, die zur Sicherstellung wertorientierter Unternehmensführung herangezogen wurden, abschätzen oder beurteilen. Digitale Geschäftsmodelle gehen auch mit neuen Umsatzmodellen und Preismechanismen einher, die sich eben nicht mit den klassischen (oder radikaler „antiken“) Instrumenten wirkungsvoll steuern lassen.
Die Aufsichtsratsbesetzung vor der Digitalisierung folgte einem Muster, das den Fokus auf „buchhalterische“ – oder feiner: „finanzwissenschaftliche“ – und vor allem juristische Kompetenzen legte. Kontrolle und Risikominimierung standen richtigerweise im Vordergrund. Richtigerweise deshalb, weil in einer Unternehmens(un)kultur undurchsichtiger Vergütungsregelungen und Compliance-Verstöße eine strengere Governance erforderlich war – doch dieser exklusive Fokus passt nicht mehr in Zeiten des digitalen Wandels.
Bisherige Denkmuster und Verhaltensweisen müssen auf den Prüfstand
Die vorbezeichneten Schwachpunkte lassen sich jedoch beheben: Zum einen muss „digitale Versiertheit“ ein Auswahlkriterium bei der (Nach-)Besetzung von Aufsichtsratsplätzen werden; zum anderen müssen die Steuerungselemente den neuen Geschäftsmodellen und die Governance-Kultur selbst angepasst werden, sich verändern. Wo der digital erfahrene Aufsichtsrat(kandidat) eine knappe Ressource ist, muss über Weiterbildung und Training nachgedacht oder dem Aufsichtsrat ein Expertenkomitee, etwa ein „Digital Advisory Board“, zur Seite gestellt werden.
In Sachen Steuerung dagegen muss ein jeder Vorstand und Aufsichtsrat der Versuchung widerstehen, allein Effizienzsteigerungen durch erhöhte Automatisierung zu erreichen. Zwar lässt sich hier das Ergebnis am einfachsten messen, doch der Wettbewerbsvorteil geht in dem Moment verloren, wo alle Konkurrenten ebenfalls nachgezogen sind. Die Effizienzsteigerung ist hier endlich und das Möglichste (zu) schnell erreicht. Damit kein Nullsummenspiel droht, wenn unternehmensinterne Prozesse abschließend digital optimiert sind, muss auch der Aufsichtsrat in seiner Beraterfunktion „über den Tellerrand“ blicken können oder, um Steve Jobs zu zitieren, „außerhalb der Box denken“.
Digitalisierung: PwC bietet eine Aufsichtsrats-App
Außerhalb der Box dachte man wohl auch im Tower 185 bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PwC, welche eine App mit dem klingenden Namen „PwC Boardroom“ anbietet. So sagte Dr. Henning Hönsch, Partner bei PwC, im September 2018 bereits in einem Kurzinterview: „In vielen Gesprächen und Diskussionsrunden, die wir mit Aufsichtsratsmitgliedern führen, […] besteht tatsächlich bei vielen noch eine gewisse Unsicherheit [in Sachen Digitalisierung]. Einig sind sich die meisten darin, dass bisherige Denkmuster und Verhaltensweisen auf den Prüfstand müssen.“
Auf den Prüfstand gehört deshalb – wie oben zur Steuerung schon angedeutet – etwa das reine Denken in Produktdeckungsbeiträgen. Viel eher sollte der Kundenwert in den Fokus rücken und zwar über den gesamten Zyklus, da jedoch weiterhin gilt „ich kann nur managen, was ich messen kann“, müssen die Logik und Metrik der digitalen Geschäftswelt angepasst werden.
Governance-Kultur: Mehr Transparenz zwischen Vorstand und Aufsichtsrat
Doch auch die deutsche Governance-Kultur, mit ihrem strikt dualistischen System aus Vorstand und Aufsichtsrat, sollte sich verändern – ohne jedoch das dualistische System zu Gunsten etwa des integrierten angelsächsischen Systems („Board of Directors“) aufzugeben. Der Aufsichtsrat sollte seine Beratungsfunktion gleichwohl im Rahmen des Möglichen weiter ausbauen und stärker nutzen, wenn es um die Neuerschließung digitaler Geschäftsfelder und die Schaffung digitaler Rahmenbedingungen geht. Der Aufsichtsrat muss hier unternehmerische Urteilsfähigkeit beweisen und auch gestaltend statt ausschließlich kontrollierend tätig werden.
Um jedoch dieses „Business Judgement“ im Sinne des deutschen Corporate Governance Kodex leisten zu können, bedarf es mehr Transparenz zwischen Vorstand und Aufsichtsrat. Immer noch wird die Arbeit häufig dadurch verkompliziert, dass Rückfragen zu Entscheidungsvorlagen aufgrund nicht ad hoc verfügbarer Informationen nicht zügig genug beantwortet werden können und Entscheidungsprozesse sich schlussendlich verzögern – in einer immer schneller werdenden Welt ist das ein Problem. Ein „Digital Board Room“ kann hier jedoch Abhilfe schaffen, wenn im Rahmen der ethischen und rechtlichen Standards alle relevanten Geschäftsdaten zentral abrufbar sind für Vorstand und Aufsichtsrat.
Digitalisierung bietet dann die Chance, dass alle Beteiligten in Echtzeit Sachverhalte tiefer erörtern und Szenarien detailreicher ausmalen und durchspielen können, schlussendlich also schneller und sicherer Entscheidungen treffen und so das Vertrauen der Investoren und Analysten in die Governance ihres Unternehmens erhöhen.
Über Oliver Krautscheid
Oliver Krautscheid betreibt das Wirtschaftsportal: https://www.oliver-krautscheid.com/oliver-krautscheid und das neue deutsche Internetportal für Drohnenenthusiasten: https://www.dronestagram.de. Der Autor ist erreichbar unter oliver@krautscheid.ch