Wenn auch die Amerikaner alles versuchen, die Erinnerung an Saigon nicht wieder aufleben zu lassen, so drängt sich dennoch anhand der Bilder und Ereignisse aus Kabul dieser Vergleich auf. Die Niederlage des Westens in Afghanistan könnte eine ähnliche Zeitenwende einläuten wie diejenige in Vietnam vor 56 Jahren.
Inhalt
von Rüdiger Rauls
Vietnam und die Folgen
Die Niederlage in Vietnam wie die zuvor in Korea hatte der Weltmacht USA ihre Grenzen aufgezeigt. Damit war dem US-geführten Imperialismus bis auf den Zipfel Südkorea ganz Zentralasien verschlossen. Der Versuch, das Vordringen des Sozialismus militärisch aufzuhalten, geschweige denn ihn gar zurück zu drängen, war gescheitert. In weiten Teilen der Welt strebten die Völker nach nationaler Unabhängigkeit und wirtschaftlicher Selbständigkeit, meist angeführt von kommunistischen Parteien.
Bereits 1970 war der Marxist Salvador Allende in Chile an die Macht gekommen. Mit dem Zusammenbruch des portugiesischen Kolonialreiches hatten weite Teile Afrikas unter der Führung von kommunistischen Parteien ihre Unabhängigkeit erlangt. Und mit der Revolution der Nelken in Portugal selbst griff der Marxismus erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg wieder auf dem europäischen Festland nach der Macht.
Zu Beginn der 1970er Jahre hatte der Sozialismus weltweit seinen größten Einfluss erlangt. Widerwillig mussten die Strategen in Washington und den Denkfabriken der westlichen Welt feststellen, dass die Armen der Welt keine Angst vor dem Kommunismus hatten. Sie fürchteten vielmehr jene, die sich in westlicher Überheblichkeit berufen glaubten, sie vor dem Kommunismus schützen zu müssen.
Werteorientierung
Die antikommunistischen Hardliner mussten widerstrebend erkennen, dass der Sozialismus mit militärischen Mitteln nicht zu besiegen war. Zudem hatten gerade die Konflikte in Korea, Kuba und Vietnam gezeigt, dass diese militärische Option auch immer die Gefahr einer Konfrontation zwischen den Atommächten USA, UdSSR und China in sich trug.
Statt weiterhin auf die militärische Karte setzte man ab Mitte der 1970er Jahre auf die ideologische, den Kampf für die Menschenrechte. Der Antikommunismus bekam ein menschliches Gesicht, und diese Strategie war weitaus erfolgreicher. Sie trug wesentlich bei zum Zusammenbruch des Sozialismus sowjetischer Prägung und dem Zerfall des Warschauer Paktes.
Mit dem Untergang der Sowjetunion war der große politische Rivale verschwunden. Die Kräfteverhältnisse in der Welt hatten sich zugunsten des Westens verändert. Diesen Vorteil verstand man, sich rücksichtslos zu Nutze zu machen. Der Appell an die Taliban, keine Gewalt bei der Neuordnung der innerafghanischen Verhältnisse anzuwenden, war dem Westen nach dem Fall der Mauer völlig gleichgültig, als es um die Neuordnung der Welt im westlichen Sinne ging.
Mit dem Krieg gegen Jugoslawien hatte man das Gespenst des Sozialismus in Europa endgültig vernichtet. Die ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes wurden mit der Aussicht auf ein besseres Leben in die Europäische Union gelockt. Das schloss aber den Beitritt zur NATO mit ein. Farbenrevolutionen wurden angezettelt oder unterstützt, um Herrscher an die Macht zu bringen, die den Interessen des Westens nützten. Andere wurden durch Farbenrevolutionen gestürzt.
Besonders den USA schien die Gelegenheit günstig, endlich aufzuräumen in der Welt und die Vorhaben umzusetzen, die man aus Rücksicht auf die UdSSR nicht hatten in Angriff nehmen können. Dort wo sich keine Kämpfer fanden für die westlichen Interessen, marschierte die Koalition der Willigen mit eigenen Truppen ein.
Der Anschlag vom 11.September 2001 diente als Vorwand, den Irak und auch Afghanistan zu überfallen. Die Appelle an die Gewaltlosigkeit, sonst immer oberstes Gebot der westlichen Werteritter, prallten ab an den Ohren der Willigen. Man wollte der Welt die Segnungen der westlichen Werte bringen und da kam es auf ein paar Kriege und einige Hunderttausend Tote nicht an. Manchmal muss man eben das Dorf vernichten, um es zu retten, wie eine amerikanische Weisheit aus dem Vietnamkrieg besagte.
9/11
Was aussah, wie der Aufbruch in eine neue Ära amerikanischer Vorherrschaft, entpuppte sich zwanzig Jahre später durch den Sieg der Taliban als gewaltige Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten. Das Ergebnis des Kriegs gegen den Terror ist nicht die Beseitigung des Terrors sondern die militärische, politische und auch wirtschaftliche Entmachtung der USA als Weltpolizist.
Keiner der Kriege, den die USA und in ihrem Schlepptau der Wertewesten seit dem Untergang der Sowjetunion geführt haben, hat politisch stabile Verhältnisse oder gar wirtschaftliche Verbesserungen hinterlassen. Das ehemalige Jugoslawien ist ein Flickenteppich kränkelnder Staaten mit sehr zerbrechlichen gesellschaftlichen Strukturen. Der Nahe Osten war schon immer ein Pulverfass, aber durch den Einmarsch der Willigen ist dieses Fass explodiert.
Die über Jahrzehnte errungene schwächliche Stabilität in den arabischen Staaten zerfiel unter den Stiefeln der GI´s und ihrer Helfer. Nach ihrem Rückzug hinterlassen die Kreuzritter der westlichen Werte nun zerfallene Staaten mit verarmten Völkern. In Libyen und Irak ist die Staatsmacht machtlos. Ihre zerrütteten gesellschaftlichen Strukturen bieten den Menschen keine Sicherheiten mehr. In Ägypten ist die Staatsmacht terroristisch aus Angst vor den Muslimbrüdern, wie auch in vielen anderen Staaten Nordafrikas, des Nahen Ostens und den Monarchien am Golf.
Kriegerisch ausgetragene Machtkämpfe innerhalb der Staaten und Gesellschaften treiben noch immer die Menschen in die Flucht und vernichten den ehemaligen Reichtum. Die Segnungen des Westens bestanden nicht in den versprochenen blühenden Landschaften sondern in der Verwüstung weiter Landstriche mit Hunderttausenden von Toten und Millionen Verelendeten und Vertriebenen.
Die Welt ist nicht sicherer geworden durch den Krieg gegen den Terror. Vielmehr ist sie in einem erbärmlichen Zustand, und schon gar nicht geht der Westen gestärkt aus dem Kampf hervor. Im Schatten westlicher Überheblichkeit und Selbstüberschätzung hat Russland seine politische Stärke wiedergefunden und ist zum bestimmenden Faktor im Nahen Osten geworden, ohne den dort nichts mehr geht. Sein Eingreifen im syrischen Bürgerkrieg hat das Land vor dem Untergang gerettet und dem Westen zum wiederholten Male die Grenzen der eigenen Macht und Fähigkeiten gezeigt.
Und während die USA und der Westen in den Wüsten der islamischen Welt ihre Kraft in sinnlosen Kriegen verbrauchten, stieg China in aller Ruhe und unter der umsichtigen Führung seiner kommunistischen Partei zur wirtschaftlichen Weltmacht auf. Während der Westen die Infrastruktur in weiten Teilen der Welt durch seine Kriege zerstörte, baute China mit seinen wirtschaftlichen, finanziellen und technologischen Fähigkeiten die Infrastruktur der vernachlässigten Länder auf.
Der Fall von Kabul am 15.8.2021 könnte das Startsignal für den beschleunigten Niedergang der USA gewesen sein. Mit Afghanistan ist ein weiteres Land dem westlichen Einfluss entglitten und dessen Präsenz in Asien weiter rückläufig. Der asiatische Kontinent wird immer mehr zum Kontinent der Asiaten, in dem der Westen nichts mehr zu sagen hat. In der Zukunftsregion der Welt ist der Westen nur mehr ein Zaungast.
Bittere Wahrheiten
Im Vergleich zwischen Vietnam und Afghanistan, den der Westen scheut wie der Teufel das Weihwasser, werden weitere Parallelen deutlich, aber auch Unterschiede, die ein Schlaglicht werfen auf die Entwicklung der letzten fünfzig Jahre. Wie in Vietnam stand auch in Afghanistan der hoch gerüstete und technologisch überlegene Westen einem Gegner gegenüber, der aufgrund seiner materiellen Ressourcen keine Chancen auf einen Sieg zu haben schien.
In maßloser Selbstüberschätzung und der Selbsttäuschung über ihre Rolle im Zweiten Weltkriegs waren die USA überzeugt, dass die Vietnamesen sich kampflos ergeben würden. Was sollten sie schon ausrichten gegen die Weltmacht USA, die sogar den mächtigen Hitler besiegt hatte? Sie übersahen aber, dass sie nur die Nutznießer der sowjetischen Erfolge waren. Und sie schoben beiseite, dass sie weder gegen China noch gegen das wesentlich kleinere Korea einen Sieg hatten erringen können. Sie waren geblendet von ihrem Antikommunismus, von ihren Theorien über den Kommunismus, von ihren gesellschaftlichen und geschichtlichen Weltbildern und Ansichten.
Sie hatten geglaubt, dass sie als Befreier empfangen würden. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass die Armen der Welt keine Angst vor dem Kommunismus hatten oder was man im Westen dafür hielt. Sie waren durch ihre Theorien und Weltbilder so sehr von der Wirklichkeit entfernt, dass sie die Wirklichkeit nicht erkennen oder wahrhaben wollten, selbst als sie ihnen schmerzhaft auf die Füße fiel. Es durfte einfach nicht wahr sein, was nicht wahr sein sollte.
Ähnlich war die Situation nach dem 11. September, nur war man jetzt nicht mehr getrieben vom Antikommunismus. Besoffen von der Menschenrechts-Propaganda, glaubten der Wertewesten selbst daran, deren Schutzherren zu sein und dass die Unterdrückten der Welt nur darauf warteten, durch ihn von ihren Tyrannen befreit zu werden und in den Genuss ewiger Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu kommen.
Und sie konnten sich nicht vorstellen, dass in anderen Ländern andere Wertvorstellungen und Interessen vorherrschten. Die Vietnamesen wollten in ihrer Mehrheit keinen Kommunismus. Sie wollten ein menschenwürdiges Leben, und das glaubten sie nach den Unterdrückungen und dem Elend der Kolonialzeit nur in ihrer nationalen Unabhängigkeit verwirklichen zu können.
Ähnlich war die Situation in Afghanistan. Man muss die Taliban nicht mögen. Aber der Westen muss nun nach zwanzig Jahren erfolglosen Krieges mit seinen menschlichen Opfern, seinem wirtschaftlichen Elend erkennen, dass die Menschen in Afghanistan ihren eigenen Weg gehen wollen, nicht den, den der Westen für richtig hält.
Der Westen stellte sich nie die Frage, wieso die Afghanen nach den Regeln des Westens leben sollten. Würden sich die Menschen im Westen den Regeln jener Völker unterwerfen, die man mit den westlichen Werten beglücken wollte? Die Menschen in Vietnam und Afghanistan kämpften für ihr Recht auf einen eigenen Entwicklungsweg, für einen nicht vom Westen aufgezwungen. Und daraus entsprang ihre Kraft. Dafür waren sie bereit, die gewaltigen Opfer zu bringen, die ihnen die Kriege abverlangten.
Die Vietnamesen hatten drei Millionen Tote und ein verseuchtes Land. Und die Afghanen erreichten in zwei Monaten, was dem Westen und seinen installierten Regierungen in zwanzig Jahren nicht gelungen war: Die Unterstützung der Bevölkerung. Ob die Taliban von heute dieselben sind wie die vor zwanzig Jahren, wird die weitere Entwicklung zeigen.
Offensichtlich aber ist, dass die Afghanen ihnen auf ihrem Vormarsch kaum Widerstand entgegensetzten. Nach zwanzig Jahren schienen ihnen die Taliban doch lieber zu sein als das, was sie aus eigener Erfahrung von den westlichen Werten hielten. Das sagt viel aus über das Bild der Afghanen von den Taliban und dem Bild, das die westlichen Meinungsmacher vermitteln.
Machtverlust
War man vor wenigen Wochen in den westlichen Hauptstädten nach Einschätzung der sogenannten Experten in den Geheimdiensten, Denkfabriken und Forschungsinstituten noch absolut sicher, dass die Taliban noch lange brauchen würden, um die Herrschaft zu erringen, so zeigte sich sehr bald, dass sie mal wieder ihren von ihren eigenen Weltbildern und Theorien beeinflussten Prognosen zum Opfer gefallen sind.
Die Entwicklungen in der Welt vom Vietnamkrieg über den Fall der Berliner Mauer, dem Arabischen Frühling und nun auch dem Sieg der Taliban offenbaren die Unfähigkeit der westlichen Experten, die Lage in der Welt, ihren Ländern und Gesellschaften realistisch einzuschätzen. Von all diesen Ereignissen waren sie überrascht, weil sie nicht in ihr Weltbild passten.
Diese Unfähigkeit des intellektuellen Personals setzt sich fort in der Unfähigkeit der Regierungen. Auch hier wird mehr nach Wunschdenken gehandelt als nach der Analyse der vorliegenden Verhältnisse und dem Erkennen der innergesellschaftlichen Triebkräfte. Der Rückzug der Kreuzritter der westlichen Werte aus Afghanistan bedeutet auch einen Verlust an Einflussmöglichkeiten auf die Entwicklungen in der Region.
Das betrifft besonders das Kräfteverhältnis zu Russland und China. Denn mit Afghanistan ist auch ein militärischer Stützpunkt verloren gegangen. Militärische Bedrohung und Aufklärung gegenüber diesen beiden Ländern kann jetzt nur noch eingeschränkt von Land aus erfolgen, wenn dann nur noch von See aus. Und Schiffe sind angreifbarer als getarnte Einheiten auf dem Land. Damit haben die USA und der Westen strategisch gegenüber Russland und China an Schlagkraft eingebüßt.
Besonders deutlich wird der Machtverlust des Westens in Bezug auf seine Fähigkeiten der Kriegsführung. Konnten die USA noch Hunderttausende Wehrpflichtige in Korea und Vietnam in offene Feldschlacht schicken, war mit dem Ende der allgemeine Wehrpflicht das Personal für Kriege begrenzt. Dem Westen laufen die eigenen Soldaten davon. Immer weniger Menschen sind bereit, für die westlichen Werte zu kämpfen. Das ist weit entfernt von der Opferbereitschaft der Vietnamesen oder Afghanen.
Die Menschen in den USA und im Westen sind kriegsmüde. Während in den Kriegen gegen die Terror Billionen Dollar und Euro verpulvert wurden für die Zerstörung von Infrastruktur, fehlten diese Gelder in den eigenen Ländern für Ausbau oder Erhaltung der eigenen.
Die Kriege in Vietnam und Korea beflügelten die Wirtschaft. Der Krieg gegen den Terror hat das Leben der Menschen in den USA nicht bereichert. Überall fehlt es am Nötigsten, Armut und Verelendung wachsen. Unter diesen Umständen sind sie immer weniger bereit, Zehntausende ihrer Söhne und Männer für Kriege opfern. Diese Einstellung der Bevölkerung lässt aber nur noch Kriege auf Sparflamme.
Während des Vietnamkrieges näherten sich die USA innenpolitisch einem Bürgerkrieg. Zeitweise herrschte der Ausnahmezustand. Dennoch gelang es der Regierung, den Krieg in Vietnam fortzuführen gegen den Widerstand der eigenen Bevölkerung und den Zehntausenden von Toten zum Trotz, die in den Zinksärgen zurückkehrten.
Im Krieg gegen Terror waren die amerikanischen Opfer gering. Es gab kaum Proteste in den USA. Trotzdem wollten die Mehrheit der Amerikaner das Ende der Kriege, und den Regierungen gelang es in den zwanzig Jahren nicht, diese Stimmung zu kippen. War die Bevölkerung noch im Kampf gegen den Kommunismus bereit, Opfer zu bringen, war man offenbar von den eigenen Werten nicht mehr so überzeugt, dass man Ähnliches im Krieg gegen den Terror auf sich nehmen wollte.
Die USA sind immer noch die stärkste Militärmacht der Welt. Aber was nützt alles Militär, wenn die eigene Bevölkerung nicht mehr hinter dem steht, wofür dieses Militär eintreten soll? Bahnt sich hier Ähnliches an wie nach der Niederlage in Vietnam? Eine neue Zeitenwende? Die Ausgangslage ist günstiger als damals.
Damals stand die USA einer Sowjetunion gegenüber, die militärisch gleichwertig, wirtschaftlich aber unterlegen war. Heute steht die USA einem Russland gegenüber, das militärisch immer noch gleich stark ist, wirtschaftlich noch nicht so stark. Aber die USA haben es auch mit einem China zu tun, das wirtschaftlich und technologisch zumindest gleichwertig und finanziell überlegen ist. Zudem ist es militärisch nicht zu besiegen.